Bülach: Wachstum ist ein Balanceakt

Wie die Gemeinden in der Agglomeration mit den Herausforderungen umgehen, vor die sie Bevölkerungswachstum, wachsende Investitionen, Sozialausgaben und steigende Mieten stellen, erfragt der Regionalverband – in dieser Ausgabe in Bülach, beim Stadtpräsidenten Mark Eberli.

In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung in Bülach um 26 % gewachsen. Hat sich die Stadt in dieser Zeit verändert?
Definitiv. Es gibt verschiedene Aspekte. Für jene, die schon lange hier leben, ist Bülach nicht mehr das, was sie kannten. Früher hat man sich in der Altstadt getroffen. «Quartiere» waren kein Thema. Die Stadt ist sicher urbaner geworden, wurde mehr und mehr zum Zentrum des Zürcher Unterlands. Bülach übernimmt auch immer mehr Dienstleistungen für die Region: Zivilstandsamt, Betreibungsamt, Sozialversicherung für andere Gemeinden, KESB, Beistandschaften und Polizei. Auch politisch ist Bülach mehr in die Mitte gerückt. Die Stadt war ganz ursprünglich ein befestigtes Bauerndorf. Heute sind die Kräfte im Parlament ausgeglichener und müssen im Dialog miteinander politisch mehrheitsfähige Lösungen suchen, um die Herausforderungen zu meistern.

Wie sehen diese Herausforderungen aus?
Mit dem Wachstum sind grosse Investitionen verbunden. Und es stellt sich die Frage: Wie hohe Schulden darf eine Kommune haben? Die einen sind bei den heutigen Zinsen entspannter, andere denken an die kommenden Generationen. Aber als regionales Zentrum müssen wir Dienstleistungen und Infrastruktur anbieten, die sehr kostenintensiv sind. Zurzeit sind drei Schulprojekte im Bau – ein Investitionsvolumen von rund 100 Millionen Franken. Um die Schulden nicht weiter anwachsen zu lassen, haben wir den Steuerfuss an die Verschuldung gekoppelt. Ein neuer Busbahnhof ist geplant und die Erneuerung der 50-jährigen Sportanlagen in der Hirslen steht vor der Tür.

Wenn mehr Menschen kommen, bedeutet dies ja auch mehr Steuereinnahmen. Mit welchem Bevölkerungszuwachs rechnet Bülach?
Wir sind zurzeit an der Überarbeitung der Prognosen. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir bis 2040 rund 30 000 Einwohnerinnen und Einwohner haben werden. Also ein verlangsamtes Wachstum? Ja. Wir stellen fest, dass die Geburtenraten in den letzten zwei Jahren deutlich gesunken sind – aber in den letzten Jahren sind auch viele Kinder zugezogen. Schulraum zu planen, ist äusserst schwierig. Auch haben wir mit acht Hektaren noch die grösste zusammenhängende Baulandreserve im Kanton Zürich. Doch die ist im Besitz verschiedener Grundeigentümerschaften. Für einen Gestaltungsplan müssten sich alle zusammentun.

Ich persönlich finde es aber ganz okay, wenn dieses Land jetzt nicht auch noch überbaut wird. Denn es findet bereits eine Innenverdichtung statt: Wo jetzt noch kleine, alte Häuser stehen, sind grössere in Planung. Zudem entwickelt eine Stiftung im Zentrum eine neue Überbauung mit einem Kultur- und Begegnungszentrum für Bülach, das wir in einem Letter of Intent mit ihr festhalten konnten.

Der Preis für Bauland hat sich seit 2000 verdreifacht. Das führt ja nicht zu günstigem Wohnraum oder günstigen Ladenflächen … Wird das auch für die Stadt selbst zum Problem?
Ja. Aber es ist ein Grundproblem im ganzen Kanton Zürich. Auch auf dem Glasi-Area ist allen Investierenden klar, dass Gewerbeflächen quersubventioniert werden müssen. Das hat sich stark verändert. Früher – im Städtchen – hat der Ladenbesitzer unten im Laden Geld verdient und oben gratis gewohnt. Das hat sich gedreht. Die gestiegenen Landpreise sind aber auch eine Herausforderung für die öffentliche Hand, wenn sie (z. B. für Infrastrukturprojekte) selbst Land braucht.

Dies wirkt sich sicher auch auf die Mieten aus. Stellen Sie einen Verdrängungseffekt fest, zum Beispiel von Menschen, die aus Zürich hierher ziehen?
Ja, das haben wir auch festgestellt. Ins Glasi- und ins Guss-Quartier kamen mehrere Hundert Personen aus Zürich. Bezahlbaren oder überhaupt Wohnraum zu finden, beschäftigt alle. Was wir hier oft erleben, ist, dass Menschen über sechzig von der Peripherie Bülachs ins Zentrum ziehen. Sie suchen etwas Altersgerechtes für sich und übergeben ihre Einfamilienhäuser der nächsten Generation, die eine Familie gründet.

Bülach hat die Hochschule Luzern (HSLU) beauftragt, einen Grundlagenbericht zu erarbeiten. Soll dieser als Basis für eine Wohnraumstrategie dienen, zum Beispiel bezüglich der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum?
Diesen Auftrag haben wir vor zwei Monaten gegeben. Den Bericht erwarten wir im Laufe dieses Jahres. Es geht uns darum herauszufinden, wie viel welcher Wohnraum kostet, wie er geografisch verteilt ist. Auf dieser Basis müssen wir entscheiden, wie stark wir den Fokus darauf legen, Wohnraum mit gemeinnützigen Wohnbauträgern zu schaffen. Wir haben ja schon einige Genossenschaften und das letzte Projekt – im Bergli – haben wir bewusst zwei Wohnbaugenossenschaften gegeben. Da wir selbst zu wenig Bauland besitzen, wird das voraussichtlich auch künftig unsere Strategie sein. Und ich sehe noch zwei Gebiete, in denen zusätzlich Wohnraum entstehen könnte. Dazu muss ich sagen: Wegen der aktuellen Wachstumsschmerzen eilt es uns damit nicht, aber aufgrund der Wohnungsknappheit eben schon. Und wenn, würde ich persönlich nur noch mit Genossenschaften zusammenarbeiten.

Es gibt eine Motion aus dem Gemeinderat betreffend einer Ergänzung der BZO durch den Artikel 49b* des kantonalen Planungs- und Baugesetzes. Ist das derzeit in Arbeit?
Alle Gemeinden müssen ihre BZO überarbeiten. Der Bericht der HSLU wird uns da sicher wichtige Hinweise liefern. Die rechte Ratsseite will «gute Steuerzahlende», die linke pocht darauf, dass wir aktiv werden bei der Förderung günstigen Wohnraums. Andererseits merken selbst bürgerlich geprägte Berggemeinden, dass bezahlbare Wohnungen für die Alteingesessenen und für das Personal der Unternehmen zum drängenden Thema werden.

«Mitwirken» ist ein eigener Menüpunkt in der Navigation der Bülacher Website. Was erhofft sich die Stadt von dieser Mitwirkung?
Ich komme aus dem sozialen Bereich und der Stadtentwicklung. Für mich ist Mitwirkung bei der Stadtentwicklung ein wichtiges Prinzip. Raum schafft Gesellschaft oder Gesellschaft schafft Raum. Für mich zählt Letzteres – je nach Themen mal mehr, mal weniger. Seit 2017 pflegen wir das intensiv und haben dazu auch einen Leitfaden auf unserer Website aufgeschaltet. Dabei haben wir festgestellt, dass viele Menschen diese Mitwirkungsmöglichkeit gar nicht suchen. Dennoch hat bei uns ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Es braucht jetzt Argumente, warum bei einem Thema keine Mitwirkung stattfinden soll, nicht umgekehrt. Dadurch, dass wir immer dichter leben, wird aber auch der Raum für Mitwirkung kleiner. Und das Engagement dafür nimmt leider ebenfalls ab.
Wir werden demnächst einen Bericht veröffentlichen, der einen Rückblick auf die Ideen der Stadtwerkstatt (mit der Bevölkerung) von 2017 bietet. Dieser wird zeigen, dass bis auf wenige Projektideen fast alles konkret umgesetzt wurde.

Die Resonanzgruppe 60+ – rund ein Sechstel der Bülacher:innen ist im AHV-Alter – hat im Juni 2024 diverse Punkte festgehalten, so u. a. fehlende Wohnangebote (WohnenPlus) oder das Wohnen zu Hause mit Spitex-Begleitung. Auch wurde moniert, es fehle an Quartiertreffs und Bülach werde zur Schlafstadt. Wie kann die Stadt darauf positiv Einfluss nehmen?
Wir haben schon ein grosses Angebot. Aber der grösste Schub kommt erst. Die Babyboomer:innen sind noch nicht pflegebedürftig. Ich weiss nicht, ob uns allen bewusst ist, was da auf uns zukommt. Es braucht Lösungen, damit die Menschen möglichst lange, also bis zu einer Pflegestufe, selbstständig wohnen können.

Bezüglich der Schlafstadt sehe ich das nicht so. Wir haben in ein paar Quartieren Treffpunkte geschaffen. In unseren Wohnen-Plus-Häusern hat es einen Gemeinschaftsraum, ein Café oder Ähnliches. Dies ist ein Teil der Bemühungen unserer Stadtentwicklung. Im nördlichen Teil Bülachs ist letztes Jahr der erste Quartierverein gegründet worden. Und wir unterstützen ihn mit einem kleinen Beitrag. Unser Ziel ist es, an den Quartieridentitäten zu arbeiten und Aktivitäten zu fördern.

Es gibt in Bahnhofsnähe aktuell ein Projekt…
Ja, das Herti-Areal. Da gibt es einen Gestaltungsplan. Das Stadtparlament hat diesen im Februar 2025 angenommen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen. Nun kommt das Geschäft vors Volk. Die einen finden, man könnte an diesem Standort noch höher bauen, für andere ist das verdichtet genug, wieder andere fanden, es gebe zu viele Auflagen seitens der Stadt. Apropos Verdichtung: Wir zonen in unserer BZO-Revision nur dort auf, wo wir gemäss regionalem Richtplan müssen, weil dieser dort eine «mittlere Dichte» vorsieht. Und wenn in 15, 20 Jahren – bei der nächsten Revision – mehr nötig sein sollte, kann man das dann immer noch machen.

Durch die Erschliessung des Glasi-Areals ist der Anteil der Wohnungen von Wohnbaugenossenschaften von 2,3 auf 5,5 % gestiegen. Wie beurteilen Sie generell die Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Wohnbauträgern?
Sehr gut. Das funktioniert gut. Sie sind sehr daran interessiert, guten Wohnraum zu schaffen. Auch stellen sie – wie beispielsweise auf dem Glasi-Areal – «Manpower» zur Verfügung, um das Quartierleben zu unterstützen. Da merkt man halt auch einen Unterschied zum GUSS, wo die kommerziellen bzw. institutionellen Investierenden nur das Nötigste tun. Diese merken aber, dass ein gutes Zusammenleben durchaus einen positiven Einfluss auf die Rendite hat.

Gibt es aktuell Projekte mit Wohnbaugenossenschaften?
Nein. Wir sind zurzeit in einem Prozess, der die langfristigen Bedürfnisse von Bülach herausfinden und priorisieren soll. Und selbst wenn wir feststellen, dass wir – nur ein Beispiel – in Zukunft 30 «Blöcke» mit günstigem Wohnraum bräuchten, wären es vielleicht doch nur fünf, weil wir einfach noch andere öffentliche Aufgaben haben. Das hat mit Ressourcen, mit verfügbarem Land zu tun. Da sind wir wieder im Spannungsfeld zwischen Wohnungsnot und dem Verdauen des bisherigen Wachstums.

Sie sind ja auch im leitenden Ausschuss des Gemeindepräsidenten-Verbandes (GPV). Werden dort Themen wie Wachstum und in diesem Zusammenhang das Wohnen und der Verkehr auch überregional diskutiert?
Es gibt kantonale Projekte wie zum Beispiel »Gemeinden 2030» und «Gemeinden 2050» vom Regierungsrat, die sich damit beschäftigen, wie wir dieses Wachstum bewältigen. In diesem Zusammenhang wird das durchaus überregional diskutiert. Gemäss kantonalem Richtplan sollen regionale Zentren wie Zürich, Winterthur, Uster und auch Bülach 80 % des Bevölkerungswachstums aufnehmen. Dies schreibt uns der Richtplan vor. Aber den Schulraum dafür müssen wir selbst bezahlen … Zwar haben viele Gemeinden positive Jahresrechnungen, aber bei den Investitionen sieht es ganz anders aus. Und nun will der Kanton auch noch beim Mehrwertausgleich partizipieren, was absolut nicht infrage kommt. Da werden sich die Gemeinden und Städte massiv wehren.

Wäre die VKR-Initiative – wird sie dereinst angenommen – für Bülach ein nützliches Instrument?
Ja, absolut. Aber das ist meine persönliche Meinung. Der Eingriff des Staates wird zwar sehr kontrovers diskutiert. Aber wenn wir sehen, welch hohe Erwartungen von der Öffentlichkeit an die Gemeinden gestellt werden, muss man sich schon fragen, wie wir diese erfüllen, wenn die Gemeinden keine Chance haben, geeigneten Raum zu bekommen. Als Beispiel: Ich engagiere mich schon länger bezüglich einer zentral gelegenen Liegenschaft in Privatbesitz, die das Potenzial hätte, an dieser Lage für viele Menschen als Begegnungsort zu dienen.


Bülach in Zahlen

24 435 Einwohner:innen (Stand 2024)
26 % Wachstum in den letzten zehn Jahren
Einwohner:innen im AHV-Alter: 4130 (oder 16,9 %)
1- und 2-Personen-Haushalte: 66,9 %
1- bis 3-Zimmer-Wohnungen: 48,7 %
Anteil an gemeinnützigen Wohnungen: 5,5 % (616 Wohnungen, Stand 2024)
Leerstand 2024: 0,58 % (aller Wohnungen)
Öffentlicher Verkehr: 14 Minuten bis Zürich HB
Steuerfuss: 114 % (2025)

(Angaben vom Statistischen Amt des Kantons Zürich und von der SBB)