Wohnbaugenossenschafter:innen sind in der Regel am Unternehmen beteiligt, in dem sie wohnen. Deshalb können sie auch mitbestimmen, wenn es darum geht, wie sich dieses Unternehmen entwickeln soll. Dies ist Teil der DNA von Wohnbaugenossenschaften. Seit jeher. Zum Beispiel bei der Generalversammlung, wo auch über Bauprojekte, über die Versorgung mit erneuerbarer Energie und über andere, äusserst wichtige Fragen entschieden wird.
Dieses Recht auf Mitbestimmung ist etwas, das sie immerhin mit etwa 10 % der Bevölkerung des Kantons Zürich teilen. Und immer mehr Wohnbaugenossenschaften schicken sich seit Jahren an, die Mitsprache ihrer Mitglieder auch ausserhalb der Generalversammlung zu fördern und zu stärken. Mit Wirkung.
Ein Indiz dafür zeigt sich auch in den Menüleisten der Webseiten von Wohnbaugenossenschaften. Immer öfter können sich die Begriffe «Mitwirkung» oder «Partizipation» sogar in den Navigationen von Websites einen Platz erobern. Bei einigen Wohnbaugenossenschaften führt dieser Link zu kleinen Schritten und Projekten, andere sind schon wesentlich weiter und im Begriff, eine eigentliche Kultur der Partizipation in ihrem Unternehmen zu etablieren.
Im Rahmen des Jahresberichts 2024 beleuchtet Wohnbaugenossenschaften Zürich das Thema Partizipation von verschiedenen Seiten. Denn: Partizipation ist alles Mögliche, aber ganz bestimmt keine Modeerscheinung. So hat sich der Regionalverband u.a. auch mit zwei Expert:innen auf dem Gebiet der partizipativen Prozesse zusammengesetzt, um über Vor- und Nachteile zu diskutieren.
Claudia Thiesen und Stefan Zollinger (im Bild) haben in den letzten Jahren nicht nur viele Bauprojekte betreut, sondern auch unzählige partizipative Prozesse mit verschiedenen Wohnbau-Akteuren aufgegleist und begleitet.
Ist Partizipation nur etwas für die jungen Wilden oder auch für traditionelle Genossenschaften ein Thema?
Claudia Thiesen: Ich kenne es von beiden. Bei den auch nicht mehr so jungen Genossenschaften war das schon immer in der DNA, oft gegründet von Gruppen, die sich nach ihren eigenen Vorstellungen neue Lebensräume schaffen wollten. Da ist es logisch, dass Initiant:innen andere dazu animieren, mitzumachen. Und bei den eher traditionellen Genossenschaften gibt es durch den Generationenwechsel sowohl in den verantwortlichen Gremien als auch bei den Mitgliedern inzwischen den Anspruch, transparenter zu kommunizieren und öfter Meinungen zu Themen abzuholen wie Strategien, Leitbilder und Reglemente. Aus meiner Sicht hat diese Entwicklung zu Beginn der 2000er-Jahre im Zusammenhang mit den Ersatzneubauten angefangen, nachdem Vorstände zuvor mit ihren Projekten an der Generalversammlung (GV) gescheitert sind. Da wuchs die Erkenntnis: .Wir müssen unsere Mitglieder mehr einbeziehen.
Stefan Zollinger: Es entspricht je länger, je mehr einem Bedürfnis, auch einer Forderung gerade seitens der Bewohnenden. Wir begleiten eine Genossenschaft, bei der aufgrund eines GV-Beschlusses ein eigentliches Partizipationsreglement erarbeitet wurde. Andererseits erleben wir aber immer wieder grosse Skepsis und stossen auf Widerstand. Aber allein schon die Information, die erste Vorstufe der Partizipation, also die Absichten und den Handlungsspielraum transparent zu machen, ist schon sehr hilfreich. .Wo sind die Leitplanken, was ist möglich?. Man kann Wünsche wie z. B. einen Skaterpark mitnehmen. Und vielleicht gibt es im Projekt dann tatsächlich Raum dafür. Aber es ist wichtig, die Spielregeln und die Rahmenbedingungen bekanntzugeben. Es muss finanzierbar sein.
Auch kommerzielle, institutionelle Wohnraumanbieter und Gemeinden führen Partizipationsprozesse durch. Gibt es Unterschiede, z. B. bei der Aufgabenstellung, zwischen kommerziellen und gemeinnützigen Auftraggeber:innen?
Claudia Thiesen: Wir beraten eigentlich nur gemeinnützige Bauträger. Natürlich könnte man auch Institutionelle beraten. Aber da fehlt oft die Basis – im Gegensatz dazu sind die Genossenschaften demokratisch organisiert. Die Mitglieder sind Miteigentümer:innen – mit lebenslangem Wohnrecht. Wenn die Teilnehmenden am Schluss nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden sind, frage ich mich schon, warum man mitmachen soll. Auch relevante Themen auszuklammern und sich mit Nebenschauplätzen zu beschäftigen, kann für Teilnehmende frustrierend sein.
Stefan Zollinger: Für mich stellt sich die Frage: Welche Werte haben eine Genossenschaft bzw. ein Institutioneller? Es darf nicht zu einem Scheinprozess kommen, Partizipation darf nicht zum Feigenblatt werden. Sonst fühlen sich die Teilnehmenden verschaukelt. Sie geben ihre Freizeit dafür. Sie müssen einen Sinn darin erkennen, mitzumachen. Sonst kommt nach der ersten Veranstaltung niemand mehr. Wenn man als Organisation den Teilnehmenden keinen echten Einfluss zugesteht, dann lässt man es lieber und steht zu den bereits getroffenen Entscheidungen. Das gilt nicht nur für Institutionelle, sondern auch für Genossenschaften, die mit Partizipation nichts anfangen können.
Sprichst du da vom alten Stefan Zollinger, dem Bereichsleiter Bau einer Genossenschaft, der sich anfangs vehement gegen partizipative Prozesse gewehrt hat?
Stefan Zollinger: Ich habe vor rund 15 Jahren massiv Widerstand geleistet. Beim Baumanagement hat man genau drei Ziele: Kosten, Termine und Qualität. Und alles, was nicht dazu passt, wird nicht berücksichtigt. Zu der Zeit hat man in jener Baugenossenschaft den Bereich Soziales etabliert, auch in den Bauprojekten. Ich konnte anfangs überhaupt nicht damit umgehen, weil ich es nicht kannte und nicht wusste, «was es macht». Doch mit der Zeit sah ich, wie sich bei solchen Prozessen auch baulich ganz viele Vorteile ergeben. Und: Wenn man die Bedürfnisse der Bewohnenden abholt und einfliessen lässt, lohnt sich das nicht nur beim Bau, sondern – ganz entscheidend – später auch im Betrieb. Damit sich Interessengruppen bilden, damit die Bewohnenden die Räume auch nutzen, die gebaut werden.
Das sind dann eben Mietbesitzer:innen. Und als solche gehen sie pfleglicher mit der Ausstattung um…
Stefan Zollinger: Es geht noch weiter. Man hat bei der Bewirtschaftung weniger Aufwand, geringere Fluktuation. Wenn zwei Nachbar:innen Probleme miteinander haben und sie sich kennen, dann lösen sie das Problem untereinander.
Was macht Partizipation bei Teilnehmenden im Laufe eines Prozesses?
Claudia Thiesen: Mitwirkung hat verschiedene Effekte. Beispielsweise bei neuen Projekten. Da lernt man andere Menschen kennen und setzt sich intensiv mit einer Thematik auseinander. Ich habe auch schon Leute erlebt, die sich zwar aus der Partizipation zu einem bestimmten Projekt verabschiedet haben, aber anschliessend ihre nachbarschaftlichen Beziehungen intensiver pflegten, weil ihnen diese Art von Engagement mehr entsprach. In solch einem Prozess lernt man sich kennen und entwickelt Formate und eine Kommunikationskultur, was auch im alltäglichen Umgang hilfreich sein kann. Probleme können dort entstehen, wo beispielsweise Mitarbeitende von Geschäftsstellen nicht früh genug in den Prozess eingebunden wurden und sie deshalb die Entscheidungsfindungen nicht miterlebt haben.
Stefan Zollinger: Sich zu kennen, ist die Basis einer funktionierenden Siedlung. Da kann man auch die Hauswartung von Anfang an miteinbeziehen. Gerade bei Sanierungen. So wird eine Massnahme von allen mitgetragen.
Apropos: Nicht jede Wohnbaugenossenschaft kennt partizipative Prozesse…
Claudia Thiesen: Jede Genossenschaft partizipiert spätestens an der Generalversammlung und da stellen sich wichtige Fragen: Wer diskutiert mit, wer entscheidet und für wen? Werden nur persönliche Wünsche geäussert oder werden die Mitglieder befähigt, für die Organisation zu denken und in die Zukunft zu schauen? Oft werden Bedürfnisse abgefragt, um damit Entscheide zu begründen. Das ist mir zu wenig. In einem gut gesteuerten Partizipationsprozess werden die Zukunft und all jene mitgedacht, die keine Zeit hatten, teilzunehmen.
Stefan Zollinger: Beim Thema «In die Zukunft schauen» kommt mir eine denkmalgeschützte Siedlung in den Sinn, die verdichtet werden sollte. Dies bedeutete, dass auch ein Teil zurückgebaut werden sollte und damit bestehender Wohnraum verloren gehen würde. Man hat das mit den Bewohnenden dieser Siedlung diskutiert, den Leuten klar gemacht, dass die Genossenschaft auch über die nächsten 20 bis 50 Jahre nachdenken muss. Das haben die Bewohnenden dann mitgetragen.
Claudia Thiesen: In diesem Moment ist es natürlich hilfreich, wenn man bereits sein Leitbild und seine Strategie partizipativ erarbeitet hat. So ist die Argumentation viel einfacher. Weil die anstehende Verdichtung nun die Folge eines vorangegangenen, gemeinsamen Entscheids ist.
Stefan Zollinger: Wichtig ist die Herangehensweise, die Strategie: Wie geht man mit partizipativen Prozessen um? Oft wird von der grünen Wiese gesprochen, aber man ist in Gedanken schon im Projekt, anstatt zuerst eine Vision dazu zu entwickeln, was das Endresultat nachher bieten muss. Wer ist betroffen, wer soll partizipieren? Was sind deren Bedürfnisse? Dann gilt es, den Spielraum klar zu definieren. Beim Resultat muss man kommunizieren, warum etwas berücksichtigt wurde und etwas anderes nicht. Und erst dann macht man sich auf die Suche nach der «Hülle», die all die Anforderungen erfüllt. Erst dann schreibt man das Projekt für einen Wettbewerb sauber aus. Es lohnt sich, zu Beginn viel Zeit zu investieren.
Claudia Thiesen: Das gilt für alle Projekte, auch ohne Mitwirkung. Nehmt euch Zeit für die Bestellung. Und definiert nicht die Lösung, sondern formuliert eure Bedürfnisse. Viele Organisationen haben aber Probleme damit und machen sich stattdessen jene Gedanken, die sich die Architekt:innen machen sollten. Das kommt wohl daher, dass man den Kostenrahmen schon vor Augen und die Erfahrung gemacht hat, dass Bauen wegen der Vorschriften und Rekurs-Themen immer komplizierter wird.
Das Abholen der Bedürfnisse ist ja nur eine Herausforderung. Dass man die richtigen Leute zu einem partizipativen Prozess bewegen kann, ist ein ganz anderes Problem. Wie spricht man diese richtig an?
Stefan Zollinger: Bei Genossenschaften ohne Partizipationserfahrung beginnt es eigentlich damit, dass man mit dem Vorstand und den Mitarbeitenden der Geschäftsstelle arbeitet, z. B. eine Kiste Lego ausleert und sie fragt, wie denn die Siedlung der Zukunft aussehen soll. Während des Prozesses bekommen meist auch Partizipationsmuffel Lust an der Mitwirkung. Das ist eine wichtige Voraussetzung.
Claudia Thiesen: Was oft vergessen geht: Es geht um die Freizeit der Leute. Und da gibt es kein Richtig oder Falsch. Es können nicht alle Zeit erübrigen. Auch gewisse Tageszeiten, Formate oder Themen entsprechen ihnen nicht. Aber mir fehlt manchmal die Kreativität bei Formaten oder in der Kommunikation.
Stefan Zollinger: Oft hat es Sitzungscharakter…
Claudia Thiesen: Man muss sprachlich mithalten können, die Begriffe kennen. Oft hat es einen schon fast akademischen Touch. Wir haben andere Formate ausprobiert, die mehr Menschen angesprochen haben – wenn man zum Beispiel gemeinsam Möbel für den Aussenraum baut. Da kommen andere Menschen, weil sie sich nicht vor einer Gruppe artikulieren müssen. Wir haben auch schon Lernreisen zu spezifischen Themen organisiert. Denn andernorts existieren bereits gute Lösungen. Das kann auch ein Teil des Prozesses sein. Aber manchmal sind wir bezüglich der richtigen Formate auch noch am Suchen.
Ist ein Aspekt der Partizipation ein Stück weit auch Marktforschung, um nachher bedürfnisgerecht bauen zu können?
Stefan Zollinger: Es ist entscheidend, die Bedürfnisse vor Beginn der Planungsarbeiten zu klären. Insofern ist die Marktforschung ein Aspekt der Partizipation. Einfach mal losplanen und bauen bringt oft nicht den gewünschten Erfolg und lässt seelenlose Siedlungen entstehen. Doch letztlich bauen wir für Menschen, welche sich in ihrem Wohnumfeld wohlfühlen sollen. Auf der anderen Seite: Wenn es für die Rutschbahn eine Partizipation braucht, dann stimmt auch etwas nicht.
Claudia Thiesen: Ich erlebe das auch als Mitglied von Genossenschaften. Je nach Thema frage ich mich schon, was man jetzt von mir will und ob das angemessen ist. Es ist eine Frage der Relevanz. Wir leben ja in einer Stadt, in einer Gesellschaft, auf einer Erde – auch zu anderen Themen ist Engagement wichtig. Oder es gibt Menschen, die sich einfach um ihre Nachbar:innen kümmern. Das ist auch etwas wert.
Stefan Zollinger: Es geht ja in erster Linie um guten günstigen Wohnraum. Das steht für die Genossenschaft im Vordergrund. Und egal, was man tut, man kann gar nicht alle miteinbeziehen. Und wenn man nur schon die eine oder andere Arbeitsgruppe hat, dann ist schon sehr viel erreicht. Aber man muss die Voraussetzungen, Räume und Strukturen für Möglichkeiten schaffen.
Claudia Thiesen: Genau. Mit der Schaffung von Möglichkeiten zur Selbstverwaltung und zur Aneignung erreichst du viel mehr. Aber klar: Bei der Bewirtschaftung möchte man die Kontrolle haben. Aber wenn man die Bedürfnisse abgeholt hat, muss man auch akzeptieren, dass sich die Menschen «ausbreiten».
Bei einem partizipativen Prozess wurden die Teilnehmenden darauf hingewiesen, dass die einzige Einnahmequelle der Genossenschaft die Miete ist und alles, was sie sich wünschen, damit bezahlt werden muss.
Claudia Thiesen: Klar. Es gibt auch Prozesse mit Preisschildern! Da wird den Leuten klargemacht, was ihre Wünsche jeweils kosten und welche Auswirkungen die Umsetzung eines Wunsches hat. Dann müssen sich die Leute überlegen, ob es ihnen so viel wert ist. Spielräume haben eben immer auch mit der Wirtschaftlichkeit zu tun. Ein Projekt muss sich rechnen. Bei einem Mitwirkungsverfahren hört man ja auch die anderen, deren Bedürfnisse und was ihnen wichtig ist.
Stefan Zollinger: Und dann braucht es Vorstände und Geschäftsführungen, die sich als Teil des Prozesses betrachten. Auch wenn jemand weiss, «wie es geht», muss er für die Ideen anderer offen sein. Manchmal müssen wir ihnen aufzeigen, was es bringt. Das ist – wenn das Verständnis dafür noch nicht vorhanden ist – ein vorgelagerter Prozess.
Kann Partizipation Innovation auch verhindern?
Claudia Thiesen: Ja, eindeutig. Menschen beschäftigen sich mit ihren eigenen Bedürfnissen. Sie interessieren sich vielleicht nicht für «neue Wohnformen». In dem Fall ist es gut, wenn auch mal jemand, der sich wirklich damit auskennt, in einem Teil-Projekt bestimmen kann.