Gastbeitrag von Tobias Nägeli im Rahmen des Jahresberichts von Wohnbaugenossenschaften Zürich mit dem Themenschwerpunkt Partizipation. Tobias Nägeli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHAW Soziale Arbeit. Er forscht und lehrt u.a. zu den Themen Sozialraum, Stadt- und Quartierentwicklung, Soziokultur und Gemeinwesen sowie Partizipation.
«Partizipation bedeutet, an Entscheidungen mitzuwirken und damit Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können. Sie basiert auf klaren Vereinbarungen, die regeln, wie eine Entscheidung gefällt wird und wie weit das Recht auf Mitbestimmung reicht». – So definieren Gaby Strassburger und Judith Rieger, die Entwicklerinnen des Modells der Partizipationspyramide, den schillernden Begriff. Schillernd? Oder doch schon etwas ausgetreten? Irrelevant? Oder einfach (noch) nicht verstanden? In meinem beruflichen Alltag verwende ich sowohl den Begriff der Partizipation als auch die erwähnte Definition sehr gerne und ergreife hier die Gelegenheit, einige Gedanken dazu zu formulieren. Dabei werde ich auf die Aspekte der Macht, Wirkung und Transparenz fokussieren, weitere «grosse» Begriffe, die für mich untrennbar mit «Partizipation» verbunden sind und auf die sich ein kritischer und auch (heraus-)fordernder Blick lohnt – insbesondere dann, wenn ich in der Position bin, mich für Partizipation zu entscheiden.
An Entscheidungen Mitwirken – oder die Frage nach Betroffenheit und Macht
«… an Entscheidungen mitwirken …» klingt zuerst einmal ansprechend, insbesondere dann, wenn ich selbst von den zur Diskussion stehenden Entscheidungen betroffen bin. Betroffenheit ist wohl eine der wichtigsten Voraussetzungen für Mitwirkung seitens der Teilnehmenden. Wenn mich ein Prozess, ein Vorhaben, eine Entscheidung nichts angeht (oder: wenn ich das zumindest denke), wozu sollte ich mich denn da engagieren? Hier liegt ein erster grosser Unterschied in den Voraussetzungen für Partizipation zwischen den Akteur:innen auf der Seite, die Partizipation anbietet, und denjenigen, die eben teilnehmen, partizipieren sollen. Oft sind Anbietende Professionelle, die im Rahmen ihrer Anstellung mit mehr oder weniger intrinsischer Motivation Mitwirkungsveranstaltungen durchführen. Ihr privater Alltag ist nicht vom Gelingen dieser Veranstaltungen abhängig, ihre berufliche Stellung zumindest kurzfristig sicher auch nicht. Allenfalls sind Anbietende von Partizipation zwar Ehrenamtliche, halten aber eine bestimmte Position innerhalb eines bestehenden Gremiums und sind dadurch mit Positions- und vielleicht auch mit Entscheidungsmacht ausgestattet. Wie wichtig ist ihnen der Erfolg der Partizipation? Oder: Wie tragisch wäre für sie ein Scheitern einer Mitwirkung in dem Sinne, dass die Ergebnisse kaum Wirkung entfalten? An Entscheidungen mitzuwirken – oder eben mitwirken zu lassen –, bedeutet nichts weniger als einen Transfer von Macht. In der Regel geht Macht von der Seite derjenigen, die Partizipation anbieten, hin zu denjenigen, die partizipieren. Die Voraussetzungen für Partizipation im Bereich der Betroffenheit und der Macht sind also unterschiedlich, je nachdem welcher Seite ich angehöre.
Der tatsächliche Einfluss auf das Ergebnis – oder die Frage nach der Wirkung
«… und damit Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können.» Das klingt vielleicht selbstverständlich und es sollte es im Sinne echter Partizipation auch sein. Wie stark Partizipierende wirklich Einfluss auf das Ergebnis eines Prozesses nehmen können, zeigt auf, in welchem Umfang ein tatsächlicher Machttransfer stattgefunden hat. Doch die Realität ist hier oft sehr zwiespältig. Mitwirkungsveranstaltungen entpuppen sich als Events von Scheinpartizipation, weil die wichtigen Entscheide bereits gefallen sind. Mitwirkende k.nnen zwar ihre Ideen äussern, es wird aber nur aufgenommen, was sowieso schon in das fortgeschrittene Vorhaben passt. Wesentlich ist also auch der Zeitpunkt von Partizipation. Nicht jeder Zeitpunkt ist für jedes Vorhaben gleich sinnvoll. Ein möglichst früher Einbezug Betroffener trägt aber ganz sicher eher dazu bei, dass deren Beiträge eine Wirkung entfalten können und das Ergebnis von ihnen entsprechend mitgestaltet wird. Und hier sind wir bei einer weiteren wesentlichen Voraussetzung von Partizipation: Ergebnisoffenheit. Wenn ich weiss, was ich am Ende eines Prozesses in der Hand haben will, ist fraglich, ob ich mit Partizipation dazu komme. Vielleicht ist hier doch eher eine andere Vorgehensweise zu wählen, was im gegebenen Fall nicht nur legitim, sondern auch zielführender und auch ehrlicher sein könnte. Wenn Partizipation in der Praxis oft zu spät an- resp. eingesetzt wird, stellt sich auch die Frage: Geschieht dies bewusst oder fehlen hier schlicht spezifisches Wissen und Erfahrung?
Wie Entscheidungen gefällt werden – oder die Frage nach Transparenz
«Sie basiert auf klaren Vereinbarungen, die regeln, wie eine Entscheidung gefällt wird …» Hier sprechen Strassburger und Rieger Transparenz an. Ein weiteres unabdingbares Merkmal von Partizipation, das für viele Anbietende von Partizipation offensichtlich zu einer grossen Herausforderung, ja sogar zu einem Hindernis wird. Transparenz meint in diesem Kontext das Offenlegen des eigenen Vorgehens und der Struktur, in welche das zu bearbeitende Vorhaben eingebettet ist. Wenn wir bei Partizipation von einem Transfer von Macht ausgehen, dann geht mit diesem Transfer auch eine Übergabe resp. Übernahme von Verantwortung einher. Das mag Anbietende von Partizipation nicht selten abschrecken, es könnte sie aber genauso gut entlasten. Die grosse Veränderung des Macht- und Verantwortungstransfers kann auf zwei Arten beschrieben werden: «Ich habe nicht mehr alles in meinen Händen» oder aber «Ich muss nicht mehr alles allein tragen». Mit dieser Transparenz und dem damit einhergehenden Bewusstsein wird für Teilnehmende sichtbar, was im gegebenen Partizipationsrahmen möglich sein kann. Und was mir noch fast wichtiger erscheint: Es kann verstanden werden, warum gewisse Dinge eben nicht m.glich sein werden. Somit werden auch die Grenzen der Partizipation bekannt und können akzeptiert werden. Dies führt zum nächsten Punkt:
Wie weit reicht das Recht auf Mitbestimmung? – oder die Frage nach den Grenzen der Partizipation
«… und wie weit das Recht auf Mitbestimmung reicht.» Angesprochen sind hier die Grenzen der Partizipation. Unweigerlich mit dem eben zuvor besprochenen Thema der Transparenz verknüpft, ist es für alle Beteiligten wichtig zu wissen, wie weit die Partizipation in einem spezifischen Moment gehen soll. In den allermeisten Fällen finden Partizipationsprozesse nicht auf der grünen Wiese statt, sondern sind Teil von grösseren Prozessen, Projekten, Vorhaben. Dabei gibt es Abläufe, Gefässe und vieles mehr, das nicht zur Disposition gestellt wird und das gleichzeitig Partizipationsprozesse und -gefässe rahmt. Diese Rahmenbedingungen, die eben unter anderem die Grenzen des Möglichen darstellen, sind unbedingt transparent zu machen. Das Abschätzen der Wirkung des eigenen Beitrags wird so für Teilnehmende überhaupt erst möglich und so kann auch die Entscheidung über eine Mitwirkung auf der Grundlage von weitgehender Informiertheit gefällt werden. Damit ist ein wichtiges Recht im Zusammenhang mit Partizipation angesprochen: das Recht, nicht zu partizipieren. Auch zur Ausübung dieses Rechts soll eine grösstmögliche Informiertheit möglich sein.
Was bleibt – oder die Frage nach Erfahrung von Selbstwirksamkeit
Und wenn die Partizipationserfahrung vorbei ist, bleibt etwas bestehen, das sich vielleicht sogar über das eben Erlebte hinaus festschreibt? Gibt es Mehrwerte von Partizipation, die über das jeweilige Partizipationsthema resp. -gefäss hinausgehen? Ja, die gibt es. Wenn ein Thema Betroffenheit auslöst, finde ich einfacher Motivation, mich für dieses Thema zu engagieren, sprich: zu investieren. Wenn ich erlebe, dass meine Meinung, mein Beitrag nicht nur gefragt und willkommen sind, sondern sich Menschen in Positionen mit mehr Entscheidungsmacht tatsächlich dafür interessieren und meine Investition sogar eine Wirkung entfaltet – beispielsweise in Ergebnissen, in denen ich mich wiederfinde, mit denen ich mich identifizieren kann –, dann erlebe ich Selbstwirksamkeit. Und diese Erfahrung, das Erleben von Selbstwirksamkeit, hat etwas Bleibendes. Ich weiss nun, dass es sich lohnen kann, an Prozessen, Entscheidungen, in Gruppen oder Gremien mitzuwirken. Diese Erfahrung und damit dieses Bewusstsein können eine Stärkung sein, ein Wissen um die eigenen Potenziale, Wirkung zu erzeugen, ein Selbst-Bewusstsein. Gerade wenn ich mein Engagement aus einer Position ohne viel Macht heraus entwickle und ich in Abhängigkeiten zu denjenigen Personen stehe, die eben solche Positions- oder Entscheidungsmacht mitbringen, dann können solche Selbstwirksamkeitserfahrungen umso stärker ausfallen. Und ich realisiere vielleicht, dass ich aus der Perspektive meines eigenen Expert:innentums für meine aktuelle Lebensrealität, was meine Erfahrung, meine Gedanken, meine sozialen Kompetenzen angehen, doch sehr Macht-voll bin.